Die Institutsleiterin des Fraunhofer IFF im Gespräch.
Frau Arlinghaus, seit etwa eineinhalb Jahren sind Sie Leiterin des Fraunhofer IFF. Was hat sich seitdem für Sie verändert?
Es ist natürlich schwierig, diese Zeit rückblickend zu bewerten, ohne die Corona-Pandemie einzubeziehen. Deren Auswirkungen haben ja für alle beruflich und privat enorm viel verändert. Ich bin mit meinem Mann und unserem damals knapp einjährigen Sohn erst kurz zuvor nach Sachsen-Anhalt gezogen. Gemeinsam hatten wir sofort begonnen uns einzurichten, das Land und die Menschen kennenzulernen. Wir haben zum Glück schnell ein Zuhause gefunden und hatten schon Pläne für die erste Willkommensparty mit allen neuen Kolleginnen und Kollegen des Instituts gemacht. Vor allem aber habe ich mich sehr intensiv um das Institut und den Aufbau meines neuen Lehrstuhls an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gekümmert. Forschungsstrategie und Team-Organisation waren die bestimmenden Themen. Dann kam der Lockdown und plötzlich ging es zusätzlich um eine weit ernstere Frage: Wie können wir als Forschungseinrichtung, die sehr stark von der wirtschaftlichen Situation ihrer Kunden in der Industrie abhängig ist, diese enorme Herausforderung bewältigen?
Lange Zeit bestimmte deshalb vorrangig das Krisenmanagement die Tagesordnung, doch die Arbeit an der strategischen Neuausrichtung des IFF war damit nicht vom Tisch. Für mich hieß das: überall noch eine Schippe drauflegen, noch mehr arbeiten, noch disziplinierter sein. Schlaf war in dieser sehr intensiven Zeit ein Luxusgut und ohne die Unterstützung meines Mannes zuhause hätte ich das kaum geschafft. Trotzdem konnte es nur funktionieren, weil auch meine Teams am IFF und an meinem Lehrstuhl an der Universität mit mir an einem Strang gezogen haben. Mittlerweile lichten sich sogar die Wolken ein wenig und ich kann auch meine eigene Forschung, die im vergangenen Jahr stark zurückstehen musste, wieder etwas hochfahren.
Das gemeinsame große Ziel ist es, mit unseren Lösungen und Technologien stets Wertschöpfung und Nachhaltigkeit zu verbinden.
Prof. Julia Arlinghaus, Institutsleiterin Fraunhofer IFF
Mit Ihrer Amtsübernahme ist nicht nur ein personeller Wechsel in der Leitung des IFF verbunden. Sie sprechen auch von Neuausrichtung. Was soll sich verändern?
Strategische Neuausrichtung bedeutet für mich, das Institut darauf vorzubereiten, dass wir uns kontinuierlich und immer wieder verändern und an die Bedarfe unserer Kunden und unserer Mitarbeitenden anpassen müssen. Genauso, wie es auch unsere Industriekunden tun. Momentan braucht es aber keine tiefgreifenden Veränderungen. Jedoch wollen wir einige Akzente deutlicher herausstellen. Dazu gehört es, den Fokus künftig noch stärker auf die industrielle Produktion und Wertschöpfung zu richten. Unsere Kunden sollen sofort wissen, was sie von uns erwarten können.
Der technologische Kern dafür ist die große Expertise des Instituts im Bereich Künstlicher Intelligenz und Digitaler Zwilling. Um ihn herum richten wir unsere Strukturen und Forschungsfelder neu aus. Das gemeinsame große Ziel ist es, mit unseren Lösungen und Technologien stets Wertschöpfung und Nachhaltigkeit zu verbinden. Auf dieser Basis wollen wir die Produktionssysteme der Zukunft entwickeln. Das ist seit jeher die Ausrichtung des Fraunhofer IFF und mit Blick auf die derzeitigen und zukünftigen Herausforderungen aktueller denn je.
Dafür passen wir die interne Organisation des Instituts an. Wir wollen das agile Arbeiten stärken und in den Abteilungen und Teams noch enger zusammenarbeiten. So werden wir zusätzliche Synergieeffekte erzeugen und die bestehenden Innovationspotenziale heben. Wichtig ist es aus meiner Sicht, die Mitarbeitenden auf diesem Weg so gut es geht zu unterstützen, beispielsweise indem unsere Führungskräfte noch mehr zu Coaches werden.
Wenn es um die Planung der Produktion von morgen geht, sind Sie Verfechterin einer holistischen Herangehensweise. Was ist damit gemeint?
Ich komme ja unter anderem aus der Logistik. Die Logistiker sagen gern von sich, dass sie sehr prozess-, lösungs- und kundenorientiert sind. Und dass sie vor allem nie einzelne Teile, sondern immer das Gesamtsystem betrachten und optimieren. Unsere Kunden erwarten von uns, dass wir ebenso denken, wenn wir zum Beispiel ihre Fabriken planen. Denn nur dann, wenn wir auch die zukünftigen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bereichen in der Planung berücksichtigen, kann eine Fabrik wirklich effizient arbeiten. Für mich bedeutet das beispielsweise, auch die Themen Klima und Nachhaltigkeit mitzudenken.
Wir wissen, dass Fabriken Teil globaler Lieferketten sind. Das macht sie anfällig für Störungen. Für einen Großteil dieser Störungen sind schon heute ökologische und soziale Folgen der Klimaveränderung verantwortlich. Das bedeutet, die internationalen Produktionsnetzwerke sind dann am effizientesten, wenn sie auch nachhaltig sind – zum Beispiel durch möglichst wenig CO2-Ausstoß, geringen Ressourcen- und Energieverbrauch, aber auch durch die Einhaltung sozialer Standards. Nachhaltigkeit wird damit auch zunehmend zum Entscheidungskriterium für Investoren. Schließlich werden besonders die großen Unternehmen wegen des Lieferkettengesetzes künftig genau auf die Klimabilanz und Arbeitsbedingungen ihrer Lieferanten achten. Deshalb ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise so wichtig.
Zu Ihren Forschungsinteressen zählt auch die Gestaltung von Wertschöpfungsketten in und mit Akteuren in Entwicklungsländern. Was macht das Thema für Sie so besonders?
Meiner Meinung nach können wir die Fragen des wirtschaftlichen Erfolgs und des Erhalts des Wohlstands in Deutschland und Europa nicht von der Situation in den heutigen Entwicklungsländern trennen. So sind die Märkte in Europa fast gesättigt. Viele Länder zum Beispiel in Afrika sind hingegen potenziell interessante Märkte für deutsche Unternehmen – mit enormen Wachstumschancen. Deutschland exportiert aber vor allem Hochtechnologie, die oftmals nicht zu den Anforderungen und Bedürfnissen dieser Länder passt. Deshalb ist es unabdingbar, die Technik an die jeweils individuellen Gegebenheiten vor Ort anzupassen, wir nennen das »frugale Innovationen«. Dies zusammen mit der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung in diesen Ländern eröffnet für hiesige Unternehmen neue Möglichkeiten: Sie können diese Märkte in ihre Wertschöpfungsketten einbinden und mit ihnen kooperieren.
Wichtig ist für mich dabei, dass daran die Menschen vor Ort partizipieren, dass Ausbildungs- und Beschäftigungschancen entstehen. Dieser Weg birgt nicht nur eine interessante wirtschaftliche Perspektive für beide Seiten, sondern zugleich auch die große Chance, die Armut vor Ort nachhaltig zu bekämpfen. Wenn man es richtig macht, können so Wachstum und Armutsbekämpfung in Afrika gleichzeitig angegangen werden.
Die Digitalisierung der betrieblichen Prozesse über den gesamten Produktionszyklus ist aber eine unbedingte Voraussetzung, um weiterhin mit den OEM und auf den globalen und nationalen Märkten kooperieren zu können. Sie ist die Grundlage für Transparenz und Nachhaltigkeit der Produktion.
Prof. Julia Arlinghaus, Institutsleiterin Fraunhofer IFF
Aktuell hat die Corona-Pandemie dem Thema Digitalisierung der Produktion großen Auftrieb gegeben. Welche Empfehlungen geben Sie den Unternehmen in Sachsen-Anhalt?
Für mich gibt es zwei Themen: Digitalisierung und Nachwuchsgewinnung. In Deutschland besteht – mit einigen Ausnahmen – ein enormes Gefälle hinsichtlich der Digitalisierungskompetenz zwischen großen und kleinen bzw. mittleren Unternehmen. Während die meisten großen Unternehmen in der Hinsicht schon sehr weit sind, stehen vor allem die KMU oft noch ganz am Anfang dieses Weges. Die Digitalisierung der betrieblichen Prozesse über den gesamten Produktionszyklus ist aber eine unbedingte Voraussetzung, um weiterhin mit den OEM und auf den globalen und nationalen Märkten kooperieren zu können. Sie ist die Grundlage für Transparenz und Nachhaltigkeit der Produktion.
Auch die Unternehmen in Sachsen-Anhalt müssen sich an die technologische Transformation in Europa und der Märkte anpassen. Sie drohen sonst vollständig abgehängt zu werden. Und sie müssen alles tun, um möglichst viele junge Leute in die Unternehmen zu holen. Sobald die Corona-Pandemie überwunden ist, sollte darauf ein Hauptaugenmerk gelegt werden. Die junge Generation bringt bereits eigenes Digitalisierungs-Know-how mit und wird damit für die Unternehmen zu einer der wichtigsten Ressourcen.