In vielen Branchen zählt die Dokumentation der Lieferkette zum Alltag. Automobilproduzenten halten mit Hilfe von Barcodes, Scanner und Software fest, wann welche Komponenten in welchem Fahrzeug verbaut werden, um notwendige Rückrufaktionen schnell und zuverlässig steuern zu können. In der Pharmaindustrie hilft der durchgängige Nachweis der Lieferkette, das Inverkehrbringen von gefälschten Medikamenten zu verhindern. All diese Maßnahmen dienen am Ende vor allem einem Ziel: das Vertrauen der Verbraucher in die Produkte zu stärken.
In der Getreidewirtschaft fällt der durchgängige Nachweis der Lieferkette heute noch schwer. Die Frage, wo und in welcher Qualität Gerste oder Weizen geerntet wurden, scheitert in der Landwirtschaft daran, dass traditionelle Analyseverfahren relativ zeitraubend sind. Um herauszufinden, wie viel Proteine oder Öl Getreide enthält, muss es zumeist Charge für Charge durch aufwendige Nasslaboranalysen untersucht werden. Da sich die Qualitätsparameter zudem räumlich ändern können, explodiert der Aufwand schnell in unwirtschaftliche Dimensionen. Die Folge: Landwirte verzichten darauf, die Qualitätsmerkmale des Getreides zu ermitteln.
Das Fraunhofer IFF hat daher gemeinsam mit John Deere, einem der weltweit führenden Hersteller von Landmaschinen, ein System entwickelt, mit dem sich wichtige Qualitätsparameter des Getreides in Echtzeit ermitteln und dokumentieren lassen. Mit Hilfe optischer Sensoren und schnellen Computeralgorithmen werden das Getreide schon während der Ernte analysiert und die Daten in eine Cloud hochgeladen. Das zweijährige Entwicklungsprojekt wurde von der EIT Food Initative (European Institute of Innovation & Technology – EIT) der Europäischen Union gefördert und 2020 erfolgreich abgeschlossen.
Mit Hilfe der Software, die wir zu diesem System beisteuern, lassen sich die Sensordaten in aussagekräftige Informationen umrechnen. Den Landwirten helfen diese Informationen, angemessene Verkaufspreise für das Getreide durchzusetzen. Die Lebensmittelerzeuger wiederum profitieren davon, Brot, Kekse oder Nudeln auf gleichbleibend hohem Niveau zu produzieren.
Prof. Udo Seiffert, Fraunhofer IFF
Analyse noch während der Fahrt
Kern des Systems bildet ein mobiler Sensor von John Deere, der direkt auf einem Mähdrescher installiert werden kann. Noch während der Fahrt wird das Getreide am Messfenster des Sensorsystems vorbeigeleitet und mit Hilfe eines Nah-Infrarotsensors im Wellenlängenbereich zwischen 950 und 1.650 Nanometern auf seine Bestandteile analysiert. Dafür wird das Korn mit weißem Licht bestrahlt und die Stärke der Reflexion blitzschnell in Abhängigkeit von der Wellenlänge gemessen. Diese gemessenen Inhaltsstoffe werden – ergänzt durch GPS-Positionsdaten – in Form einer digitalen Karte nach der Fahrt in eine Cloud hochgeladen, wo sie zum dezentralen Abruf zur Verfügung stehen.
Die Herausforderung: Die Spektraldaten, die die Sensoren liefern, müssen schnellstmöglich so aufbereitet werden, dass sie den Beteiligten relevante Information und Orientierung bieten – etwa in Form einer digitalen Karte, die dem Landwirt schon im Display des Führerhauses zeigt, wie sich die Qualitätsparameter des Getreides während der Fahrt verändern. Nur so kann er bei Bedarf frühzeitig und aktiv gegensteuern. »Da es aber keine mathematische Formel gibt, mit der sich die Spektraldaten in Parameter wie Feuchte oder Proteingehalt des Getreides übersetzen lassen, nutzen wir Methoden des maschinellen Lernens, um diese Informationen möglichst schnell zu ermitteln«, erklärt Dr. Andreas Backhaus. Er und seine Team-Kolleginnen und -Kollegen am Fraunhofer IFF erforschen seit vielen Jahren, wie sich Sensorik und maschinell gelernte Softwarekomponenten für die Charakterisierung von biologischen Materialien kombinieren lassen.
Maschinelles Lernen kennzeichnet digitale Verfahren, die darauf zielen, wiederkehrende Muster in Datensätzen zu erkennen. Dafür werden verschiedene Rechenverfahren, Algorithmen genannt, ins Rennen geschickt und mit einer Vielzahl validierter Daten trainiert. Expert:innen sprechen in diesem Zusammenhang von der Kalibrierung des Systems.
Die Algorithmen führen in Bruchteilen von Sekunden unzählige Aktionen aus, die sie besonders gut beherrschen: Vergleichen, Filtern und Sortieren der Daten. Der Algorithmus, der am Ende die besten Ergebnisse liefert, wird programmiert. Dabei gilt: Je mehr Daten für das Training zur Verfügung stehen, desto exakter bildet der Algorithmus den Zusammenhang zwischen den nackten Sensordaten und den für Landwirte und Lebensmittelproduzenten relevanten Informationen über das Getreide nach.
Volle Transparenz auch in der getreidewirtschaftlichen Lieferkette
Den Fachleuten des Fraunhofer IFF wurden diese Daten von den Projektpartnern, zu denen auch ein Nudelproduzent gehörte, zur Verfügung gestellt. Auf dieser Grundlage entwickelten sie eine Software, die die Sensordaten unmittelbar in operativ nützliche Daten übersetzt. »Wir haben die Projektaufgabe erfolgreich erfüllt«, sagt Seiffert. »Der von uns entwickelte Algorithmus kann heute auf mobilen Landmaschinen zum Einsatz kommen. Damit wird die volle Transparenz in der Lieferkette auch in der Getreidewirtschaft möglich.«
Und zwar in mehrfacher Hinsicht. So lässt sich das System auch für andere Anwendungen nutzen, etwa um das Düngeverhalten von Landwirten zu verbessern. Das Prinzip: Indem der Landwirt die Menge an ausgebrachtem Dünger mit dem Proteingehalt des geernteten Getreides vergleicht, kann er abschätzen, ob er im nächsten Anbaujahr vielleicht auch mit weniger Dünger die gleiche Qualität erzielen kann. Davon würden sowohl er selbst als auch die Umwelt profitieren. Denn überflüssiger Dünger verursacht ein Problem: Er versickert im Boden und belastet das Grundwasser mit gesundheitsgefährdendem Nitrat.
In der Getreide verarbeitenden Industrie wird der mobile Sensor helfen, den Produktionsprozess besser zu steuern. Schließlich lässt sich die Qualität des Getreides auch noch vermessen, kurz bevor es gemahlen wird. Der Vorteil: Sobald die Verantwortlichen sehen, dass sich Feuchte, Protein- oder Ölgehalt verändern, können sie die Produktion unmittelbar anpassen, um die Qualität des Mehls und der Folgeprodukte auf einem gleichbleibend hohen Niveau zu halten.
Digitalisierung bietet Chance auf neue Services für die Landwirtschaft
Weitere Anwendungen sind bereits in Sicht. Dabei sieht sich das Fraunhofer IFF sowohl als Technologie- als auch als Geschäftspartner. Denn abgesehen von der langjährigen Entwicklung von Algorithmen und einem unmittelbaren Zugriff auf eine leistungsfähige IT-Infrastruktur profitiert das Institut vom Netzwerk der Fraunhofer-Institute insgesamt.
So forschen in dem Fraunhofer-Leitprojekt »Cognitive Agriculture (COGNAC)« insgesamt acht Fraunhofer-Institute gemeinsam an Grundlagen, um landwirtschaftliche Produkte ebenso umwelt- und ressourcenschonend wie hocheffizient zu produzieren. Die Analyse hochkomplexer Wechselwirkungen zwischen Biosphäre und Produktion soll in einem Ökosystem vernetzter Daten und Dienste (»Agricultural Data Space«) nutzbar werden und die Entscheidungsfindungen landwirtschaftlicher Erzeuger unterstützen. Der Nutzer erhält am Ende kein fertiges Kaufprodukt, sondern einen regelmäßigen Software- und Daten-Service.
Zudem bietet das Fraunhofer IFF Werkzeuge, um die regelmäßigen Updates der Software auf die Mess-Box zu verteilen. »Die Kalibrierung des Algorithmus ist ein kontinuierlicher Prozess, in den regelmäßig technische und fachliche Fortschritte einfließen«, sagt Backhaus. Systeme, die auf maschinellem Lernen beruhen, würden daher immer wieder neu trainiert. »Im besten Fall wird die Software immer wieder aktualisiert. Dieser Prozess geht nie zu Ende.«